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Mittwoch 29.09.2010, 10:50 • von FOCUS-Online-Redakteurin Christina Steinlein
Noch 20 Jahre nach der Wende ist nicht zusammengewachsen, was zusammengehört. Viele Ostbürger fühlen sich als Deutsche zweiter Klasse – und haben dafür handfeste Gründe. Gabriele S. wähnte sich im Westen längst akzeptiert und angekommen, als ihr ein herber Fausthieb verpasst wurde. Sie hatte sich bei einem Unternehmen in der Nähe von Stuttgart beworben und wurde abgelehnt. Ihre Bewerbungsunterlagen bekam sie zurück, mit einer freundlichen Standard-Absage. Aber als sie ihren Lebenslauf sah, wollte sie ihren Augen nicht trauen. Oben neben ihrem Namen, handschriftlich und mit einem dicken Minus-Zeichen versehen, hatte jemand das vermeintliche Ausschlusskriterium vermerkt : „OSSI“. Sie klagte gegen den schwäbischen Fensterbauer, noch ist der Ausgang ungewiss, der „Minus-Ossi“-Fall nicht abgeschlossen.
20 Jahre nach der Einheit trennen Spott, Vorurteile und Mentalitätsunterschiede Ost- und Westdeutsche – das ist das Ergebnis von 17 Jahren Forschung des Politologen Wolf Wagner. Ostbürger fühlen sich als Deutsche zweiter Klasse und haben Angst vor Diskriminierung. Nicht zu Unrecht, wie die Geschichte von Gabriele S. zeigt.
Das größte Vorurteil : Ossis sind faul
Nicht zu Unrecht, wie auch die Geschichte von Michael Meyen zeigt. Wer ihn besucht, trifft einen Privilegierten. Der Professor für Kommunikationswissenschaft an der LMU hat ein Büro hoch oben in einem alten Unigebäude in der Münchner Innenstadt. Meyen bietet regelmäßig Seminare an, die mit Ostdeutschland zu tun haben, sodass ihn eine Studentin fragte, ob er etwa ein Problem mit seiner Herkunft habe. Hat er nicht, stellt er klar. Aber was die Studentin nicht wusste : Auch er hat Diskriminierung – vermutlich – aufgrund seiner Herkunft erlebt.
Ausgeschrieben war damals, als er sich nach München bewarb, eine Professur auf Lebenszeit. Es gab mehrere Bewerber, Meyen erfüllte die Kriterien am besten. Als feststand, dass die Stelle an den Mann aus Leipzig zu vergeben war, änderte die Univerwaltung nachträglich die Bedingungen, erzählt der Wissenschaftler. Aus der Professur auf Lebenszeit wurde eine befristete Stelle. Meyen nahm sie trotzdem. Er kann nicht beweisen, dass die nachträgliche Änderung mit seiner Herkunft zu tun hat, und er hat auch nie versucht, es zu beweisen. Aber der Verdacht liegt nahe. „Heute“, sagt er, „ist es üblich, Professorenstellen zunächst zu befristen. Damals war es das ganz und gar nicht.“ Nach drei Jahren hatten Dekan und Kollegen erlebt, dass der Ossi sich auf seinem Lehrstuhl nicht ausruhte, sondern fleißig und ehrgeizig war – erst dann wurde die Stelle wieder umgewandelt in eine unbefristete. Meyen hat sich durchgebissen.
Der Unterschied zwischen Gott und Wessi
Insgesamt sind nur fünf Prozent aller Professuren in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern an Akademiker aus den neuen Bundesländern vergeben, die meisten davon in den neuen Bundesländern. Keiner der Dax-Vorstände und keiner der Bundesverfassungsrichter stammt aus Ostdeutschland, kaum ein Chefredakteur ist Ostdeutscher. Am anderen Ende der Skala gibt es ihn wirklich, den sprichwörtlichen Hartz-IV-Empfänger im Osten, und es gibt ihn doppelt so häufig wie im Westen. Diejenigen Ostbürger, die Arbeit haben, jobben häufiger in prekären Verhältnissen und verdienen im Schnitt 17 Prozent weniger als ihre Kollegen im Westen.
Es entsteht ein Bild, hier Westdeutsche, weiter oben in der Hierarchie, dort Ostdeutsche, eher am unteren Ende der Leiter. Das Bild stimmt so nicht, aber die meisten Deutschen haben es dennoch verinnerlicht. Der Politologe Wolf Wagner hat sich den Be- und Empfindlichkeiten zwischen Ost und West gewidmet und kann erklären, wie sie zustande kommen : In einem der größten gesellschaftlichen Experimente der Geschichte wurde Deutschland zweigeteilt in einen demokratisch und einen sozialistisch geprägten Part. Vierzig Jahre blieben Zeit, unterschiedliche Lebenswirklichkeiten herauszubilden. Dann kam die Wende, und die Westdeutschen hatten es nicht nötig, sich in irgendeiner Form anzupassen. Veränderung wurde von den Ostdeutschen erwartet, und nur von ihnen. Es gab damals etwa 60 Millionen Westdeutsche und 20 Millionen Ostdeutsche. Die Mehrheit definierte den Standard, somit ist Deutschland bis heute Westdeutschland. Die Ostdeutschen wehren sich mit Spott : Was ist der Unterschied zwischen Gott und Wessi ? Gott weiß alles, Wessi weiß alles besser.
„Der Ossi ist des Wessis Ausländer“, resümiert Politologe Wagner. Drei Millionen dieser „Ausländer“ haben das ehemalige DDR-Gebiet zwischen 1991 und 2006 verlassen. Die meisten wegen der Arbeit, manche wegen der Liebe. Elmar Brähler, Professor an der Uni Leipzig, hat gemeinsam mit Kollegen die innerdeutschen Migranten befragt. Die Ostdeutschen, die im Westen leben und arbeiten, zeigte Brähler, sind zufriedener als die Vergleichsgruppe der Daheimgebliebenen.
Das gilt auch für Sebastian Holz*. Er ist zufrieden, seine Brüder sind es nicht. Er wohnt in München, seine Brüder noch immer in Hoyerswerda. Er hat im Osten studiert, nach dem Mauerfall im Westen promoviert und arbeitet heute bei einem Konzern als stellvertretender Abteilungsleiter. Es geht ihm gut. Das sagt er auch. Was er aber nicht sagt, ist, woher er stammt. Wird er heute gefragt, woher er kommt, antwortet der 40-Jährige : aus München. „Ich schäme mich überhaupt nicht, gebürtiger Ostdeutscher zu sein“, stellt er klar, „aber ich binde es den Leuten nicht auf die Nase, weil ich keine Lust habe, mich mit ihren Vorurteilen auseinanderzusetzen.“
Was ist ein Trabbi auf einem Berg ? Ein Wunder.
Damit ist er nicht allein. Der Kommunikationswissenschaftler Meyen hat für eine Studie über Karrieren Journalisten aus Ostdeutschland gesucht, die im Westen Erfolg haben. Sie sind rar, war seine erste Erkenntnis. Es gibt etliche, die im Osten eine gute Stelle haben, aber nur wenige im Westen. Und : Letztere wollen nicht befragt werden. Sie fürchten schlechte Auswirkungen auf ihre Karriere.
„Auf mehreren Ebenen hat die Vereinigung gut funktioniert. Wo die Menschen einzeln aufeinandertreffen, miteinander arbeiten, haben sie jeweils schichtspezifisch gleiche Werte, Geschmäcker und Vorlieben. Auf der Wahrnehmungsebene aber, wenn man von den Ostdeutschen und den Westdeutschen spricht, bleiben massive Vorbehalte“, sagt Wagner. Auch diese finden sich in einem Witz wider. Was kommt heraus, wenn ein Wessi und ein Ossi ein Kind kriegen ? Ein arroganter Arbeitsloser.
Das falsche Bild der Statistik
Die Vorbehalte kommen durch Mentalitätsunterschiede, aber auch durch die Statistik zustande. Sie vergleicht Ost und West und scheint zu belegen, dass Ostdeutsche schlechter dran sind als Westdeutsche.
Mit der Statistik stimmt alles, aber von im Osten und Westen erhobenen Daten auf Ossis und Wessis zu schließen, zeichnet ein falsches Bild. All die abgewanderten Ostdeutschen, die im Westen leben, arbeiten und Steuern zahlen, zählen in der Statistik zum Westen, erklärt Politologe Wagner. Es gehen die jungen, gut ausgebildeten, Zuversichtlichen. Es bleibt logischerweise eine Bevölkerung zurück, die sich zu einem größeren Teil als in anderen Regionen aus Hartz-IV-Empfängern und Rentnern zusammensetzt.
Warum wird der Saarländer nicht diskriminiert ?
Menschen in Ostdeutschland sind überdurchschnittlich häufig fettleibig, konsumieren mehr Alkohol, sehen mehr fern und wählen ein stärker unterhaltungsgeprägtes Angebot, das haben unterschiedliche Studien gezeigt. Die Verfasser, Elmar Brähler und Michael Meyen, konnten aber beweisen, dass es nichts mit der Herkunft zu tun hat, sondern mit der Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht. Die Abwanderung sorgt in anderen Regionen Deutschlands für ähnliche demografische Strukturen, im Saarland etwa. Aber niemand wird abqualifiziert, weil er aus dem Saarland stammt. Dem „Ossi“ werden Eigenschaften wie mangelnde Eigeninitiative zugeschrieben, dem Saarländer nicht.
Etliche der Ost-West-Migranten lösen das Imageproblem wie Sebastian Holz. Man muss sie sehr gut kennen, um zu erfahren, dass sie aus dem Osten stammen. Der Grund ist aber nicht, dass sie den Westen viel besser finden als den Osten. Eher das Gegenteil : Heimat wiegt schwer. Viele von ihnen planen die Rückkehr, wenn sie in Rente gehen. Oder auch früher : Michael Meyen bewirbt sich derzeit auf eine Professur in Leipzig.